Nimmt sich in Russland ein Kind ein Blatt Papier und lässt mit Farben darauf ein Bild entstehen, dann malt es. Wird derselbe Vorgang von Erwachsenen ausgeführt, dann schreiben sie.

Die Künstlerin Rusanna Werbicki ist vertraut mit der russischen Sprache und so beschäftigt sie sich seit Jahren mit dem Phänomen, dass die Textur des Geschriebenen ein eigenständiges Bild entstehen lässt. In ihrer Serie Zeitlandschaften überträgt sie die Idee des "Bilderschreibens" in die Malerei. Schon ihren grundierten Bildträger benutzt Werbicki wie ein Blatt Papier und setzt mit einem Lackstift darauf aneinander gereihte, doch in sich eigenständige Zeichen, die sie in Linien von links nach rechts, von oben nach unten aufträgt. Der Prozess des Malens wird in Werbickis Werken dabei strukturell vom Prozess des Schreibens abgelöst.

Ähnlich einer Schreibenden hält auch sie währenddessen inne, nimmt äußerlich und innerlich Abstand, um den Status quo zu fixieren und um das entstandene Bild mit der abstrahierten Vorstellung im Kopf vom Gesamten zu überprüfen. Anders aber als beim herkömmlichen Schriftbild gibt es in ihren Arbeiten keine Punkte, Kommas oder gar Absätze. Die Linie hingegen wird immer vollendet. Es gibt auch kein Zurück mehr, spätere Korrekturen, Übermalungen oder Einfügungen lehnt die Künstlerin ab. Eine Korrektur ihres ersten Bildentwurfes gibt es dagegen schon.

Allerdings macht Werbicki keine Skizzen oder Vorzeichnungen, es entstehen lediglich Vorstellungsbilder im Kopf, die sie verfolgt. Befindet sie aber während des Herstellungsprozesses schon ein Werk für fertig, dann schließt sie es vorzeitig ab. Das bedeutet, nicht jedes Bild ist voll geschrieben, die Leere der Fläche kann zum gleichbedeutenden Gestaltungselement werden.

Was aber ist zu sehen? Die Summe der Zeichen in Kombination mit ihren unterschiedlich gesetzten Abständen zueinander, lassen Ausschnitte von Horizonten entstehen und damit - Raum. Eine konkrete Zuordnung von bestimmbaren Orten ist weder möglich noch erwünscht. Auffällig dabei ist vielmehr die Weite, die Unbegrenztheit der imaginativen Landschaft, die Zeit nicht an ihrem Moment festmacht, sondern an ihrer Idee von Unendlichkeit.

Sigrid Melchior